Pragmatiker der Macht | NZZ (2024)

Der ehemalige Staatspräsident Süleyman Demirel, Überlebenskünstler in der türkischen Politik, ist gestorben

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«Gestern war gestern, und heute ist heute.» Es ist das vielleicht schönste und treffendste Bonmot, das von Süleyman Demirel überliefert ist. Demirel, dessen politische Karriere fast ein halbes Jahrhundert umspannte, war ein Pragmatiker der Macht. Siebenmal war er Ministerpräsident seines Landes und von 1993 bis 2000 Präsident. In diese Zeit fielen sowohl die rapide Modernisierung, wirtschaftlicher Auf- und Abschwung wie zahlreiche politische Krisen, die das Land spalteten. Demirel ging politische Bündnisse mit Sozialdemokraten ein, aber auch mit ultrarechten Nationalisten. Zweimal putschte das Militär gegen ihn, und doch stellte er dessen Rolle in der Politik nie infrage. Am frühen Mittwochmorgen ist Demirel im Alter von 90 Jahren in einem Spital in Ankara gestorben.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan würdigte Demirel als Staatsmann, der tiefe Spuren in der Politik hinterlassen und zur Entwicklung des Landes beigetragen habe. Ähnlich äusserte sich der amtierende Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Das Land werde ihn für immer für seine Dienste und seinen unverwechselbaren Stil in Erinnerung behalten, erklärte Davutoglu. Die türkische Regierung ordnete eine dreitägige Staatstrauer an.

Aufstieg des Bauernsohns

Im November 1924 in eine bäuerliche Familie in einem Dorf in der westtürkischen Provinz Isparta geboren, absolvierte Demirel an der renommierten Technischen Universität in Istanbul ein Ingenieurstudium. Nach einem postgraduierten Studium in Amerika wurde er mit 31 Jahren der Leiter der staatlichen Wasserbehörde. In dieser Funktion schob er den Bau von Staudämmen an. Darauf setzte er auch später, als er als Ministerpräsident die Entwicklung in den verarmten ländlichen Regionen vorantrieb. Den «Herrn der Staudämme» nannten ihn Kritiker wie Anhänger.

Seine politische Karriere begann Demirel in den sechziger Jahren, kurz nach dem ersten Putsch des türkischen Militärs im Jahr 1960. Ob aus eigener Überzeugung oder politischem Opportunismus, Demirel vermied jeglichen Konflikt mit den Generälen. Fünf Jahre nach dem Putsch wurde er mit 40 Jahren der bis dahin jüngste Ministerpräsident des Landes. Sein volkstümlicher Stil, der ihm den Beinamen «Sülü der Schafhirte» eintrug, bescherte seiner Adalet Partisi, der Gerechtigkeitspartei, vier Jahre später dank den Stimmen der Landbevölkerung einen Erdrutschsieg. Seine liberale Wirtschaftspolitik verschaffte der Türkei Wachstumsraten von sechs Prozent.

Unter Druck der Radikalen

Trotzdem nahmen die politischen Spannungen zu: Auf der Linken forderten Studenten und Arbeiter radikale Reformen, auf der Rechten geriet die Regierung von Erznationalisten und Islamisten unter Druck. Das Militär stellte Demirel ein Ultimatum und vertrieb ihn im März 1971 per «Memorandum» aus dem Amt. Den Nachfolgeregierungen gelang es freilich nicht, die Lage zu beruhigen, und 1975 beerbte Demirel seinen grossen Rivalen links der Mitte, Bülent Ecevit. Doch auch seine Mitte-Rechts-Koalition konnte das Abgleiten des Landes nicht verhindern. Viele warfen dem Regierungschef vor, auf dem rechten Auge blind zu sein. Offen stachelten damals die Rechten in der Regierung die Gewalt auf der Strasse an, die beinahe täglich Dutzende von Todesopfern forderte.

Nach dem dritten Putsch im September 1980 belegten die Generäle Demirel und weitere Mitglieder seiner Partei mit einem politischen Bann. Trotzdem forderte dieser die Generäle nie heraus, vielmehr war er der Meinung, dass diese durchaus eine Rolle in der Politik spielen sollten. So folgte er in der Aussenpolitik im Grunde genommen immer den Leitlinien des Militärs: Er hielt sich an die Anbindung an den Westen und die Nato, an gute Beziehungen mit den Vereinigten Staaten und mit Israel.

Elf Jahre nach dem Putsch wurde Demirel 1991 erneut Ministerpräsident. Und als sein politischer Ziehsohn, der konservative Wirtschaftsliberale Turgut Özal, zwei Jahre später starb, wurde er schliesslich Präsident. Dies war wohl der Höhepunkt in seiner politischen Karriere, doch wurde diese in den letzten Jahren von einem der dunkelsten Kapitel der jüngeren türkischen Geschichte überschattet. In den kurdischen Gebieten im Südosten des Landes tobte ein Bürgerkrieg. Tausende von Kurden wurden in Gefängnisse gesteckt, Hunderte verschwanden spurlos, und das Militär verfolgte mit der Zerstörung von Dörfern eine Politik der verbrannten Erde.

Keine Rechenschaft abgelegt

«Die Türkei betrachtet alle ihre Bürger als gleich», sagte Demirel seltsam unberührt in einer Rede im Jahr 1999. Und: Es gebe kein Minderheitenproblem, vielmehr gehe es darum, die Einheit des Landes zu bewahren. Während viele Türken am Mittwoch um den «Vater der türkischen Politik» trauerten, hielten sich die Kurden mit Beileidsbezeugungen entsprechend zurück. Die prominente kurdische Abgeordnete Pervin Buldan erklärte: «Demirel ist gegangen, ohne dass er zur Rechenschaft gezogen wurde.»

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Author: Eusebia Nader

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